T. Großbölting u.a. (Hrsg.): Politisches Entscheiden im Kalten Krieg

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Titel
Politisches Entscheiden im Kalten Krieg. Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West


Herausgeber
Großbölting, Thomas; Lehr, Stefan
Reihe
Kulturen des Entscheidens
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benno Nietzel, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Der von Thomas Großbölting und Stefan Lehr herausgegebene Sammelband ist aus der Arbeit des DFG-Sonderforschungsbereiches 1150 „Kulturen des Entscheidens“ an der Universität Münster hervorgegangen (2015–2019). Das Forschungsprogramm richtet sich auf das Entscheiden als eine voraussetzungsvolle soziale und kommunikative Praxis, deren Modi häufig als invariant vorausgesetzt, nun aber zum expliziten Gegenstand historischer Forschung gemacht werden. Es geht dabei also nicht in erster Linie darum, Entscheidungsresultate zu betrachten, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens, den Entscheidungsprozess zu analysieren. Der Begriff der „Entscheidungskulturen“ verweist aber auch auf gesellschaftliche Verständnisse dessen, was überhaupt eine Entscheidung ist, sowie auf Aushandlungsprozesse darüber, wann und zu welchen Dingen (politischer) Entscheidungsbedarf besteht. Schließlich geht es um die kommunikative Rahmung von Entscheidungen, um die Frage, mit welchen Mitteln Entscheidungen öffentlich dargestellt, vermittelt und legitimiert werden. In der Einleitung, in der Großbölting das Forschungsprogramm erläutert, werden diese Fragen auf die politische Konstellation des Kalten Krieges gemünzt. Im Zeichen der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion erhielt politisches Entscheiden, so die Ausgangsthese, eine nie dagewesene Brisanz, schwebte doch immer die drohende atomare Auslöschung wie ein Damoklesschwert über der Menschheit, konnte eine falsche Entscheidung deren Vernichtung bedeuten. Um die internationale Dimension des Kalten Krieges geht es in dem Band allerdings nicht. Die Beiträge sollen vielmehr nach „Parallelen und Divergenzen“ in den Kulturen des Entscheidens zwischen „Ost“ und „West“ fragen. Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund, die dem Band die Gliederung vorgeben: Erstens geht es um „Orte und Machtzentren“ des Entscheidens, womit sich auch die Frage nach Öffentlichkeit, Regelhaftigkeit und/oder Informalität von Entscheidungen verbindet, zweitens um die Rolle von Wissenschaft und Experten in politischen Entscheidungsprozessen. Beiden Aspekten sind jeweils vier Beiträge gewidmet.

Zunächst allerdings unternehmen zwei Texte eine Art erste Gesamtschau auf das Themenfeld. Gabriele Metzler bündelt ihre langjährigen Forschungen zur Regierungsgeschichte der (alten) Bundesrepublik anhand der Frage nach Entscheidungskulturen und konzentriert sich dabei auf die einzelnen Bundeskanzler. Die autoritäre „Kanzlerdemokratie“ unter Adenauer bewertet sie weniger als tatsächliche Praxis, sondern vor allem als ein Narrativ, das der westdeutschen Gesellschaftsmehrheit mit ihrer Sehnsucht nach patriarchaler Führung den Übergang in die Demokratie erleichterte. Während der 1960er-Jahre erhob sich dann eine intensive Debatte über die Prozesse politischer Entscheidungsfindung sowie über die Rolle von Beratern und Experten. Wissenschaftlichkeit und Rationalität waren wichtige Orientierungswerte der sozialliberalen Entscheidungskultur nach dem Machtwechsel von 1969; auch dadurch stieg in den 1970er-Jahren die Zahl der beteiligten Akteure bei politischen Entscheidungen. Die Rückeroberung des Kanzleramtes durch die CDU/CSU stelle in dieser Hinsicht keine große Zäsur dar – nur 1989/90 geriet der amtierende Kanzler Helmut Kohl im dynamischen Prozess der Wiedervereinigung für eine begrenzte Zeit und ziemlich überraschend in die Position eines zentralen Entscheidungsakteurs.

Stephan Merl widmet sich anschließend in einem komplexen und thesenreichen Beitrag der politischen Entscheidungskultur in der Sowjetunion, insbesondere seit der Ausformung eines von zentralen Führerfiguren dominierten Machtregimes im Stalinismus der 1930er-Jahre. Merl betont unter anderem, dass politische Entscheidungen für die diktatorischen Führer des sowjetischen Regimes selten auf die Lösung von Sachproblemen zielten, sondern primär als Mittel des Machterhaltes fungierten. So setzten Stalin und seine Nachfolger immer wieder auf abrupte Richtungsentscheidungen, um ihre persönliche Position zu stützen. Im permanenten Machtgerangel innerhalb der Parteiführung wurden Entscheidungen oftmals vor allem mit dem Ziel getroffen, Konkurrenten auszubooten und sie an erfolgreicher Politik zu hindern. Kollektives Entscheiden und die Partizipation der Bevölkerung wurden immer wieder rituell beschworen und inszeniert, hatten aber mit den tatsächlichen politischen Mechanismen nichts zu tun. Eine wichtige Zäsur macht Merl in der Ära Brežnev aus, als das sowjetische Regime von einer aktionistischen Entscheidungskultur im Zeichen utopischer Politikziele zu einer vergangenheitsorientierten politischen Kultur überging, die in zahlreichen Feldern Entscheidungsstillstand bedeutete.

Die folgenden Beiträge des Bandes liefern überwiegend Variationen, Vertiefungen und Ergänzungen dieser grundlegenden Befunde. Svenja Schnepel fragt in ihrem Aufsatz zum Abschnitt „Orte und Machtzentren des Entscheidens“ danach, wie die gesellschaftlichen Diskurse der langen 1960er-Jahre um „Planung, Partizipation und Technisierung“ sich in der Arbeitsweise des Bundeskanzleramtes niederschlugen. Sie konzentriert sich besonders auf die Versuche des Kanzleramtschefs Horst Ehmke Anfang der 1970er-Jahre, umfangreiche, computergestützte Verfahren der politischen Planung zu etablieren. Die drei weiteren Beiträge des Abschnittes sind den obersten Entscheidungsgremien in staatssozialistischen Regimen gewidmet. Rüdiger Bergien schildert, wie politische Entscheidungsprozesse in der DDR der Ära Honecker immer stärker aus den formalen Entscheidungsgremien, dem ZK-Sekretariat und dem Politbüro, in informelle Strukturen und Prozeduren verlagert wurden. Stefan Lehr analysiert Präsidiumssitzungen der tschechoslowakischen KP (1969–1989) und stellt fest, dass Sachentscheidungen entweder bereits vor Beginn der Diskussion informell festgelegt waren oder dass im seltenen Fall eines offenen Meinungsaustausches über verschiedene Optionen das Eingreifen des Generalsekretärs die Debatte beendete. Während Stephan Merls Beitrag ganz aus der Perspektive der Machtinteressen der sowjetischen Parteiführung argumentierte, nimmt Nikolay Mitrokhin in seinem Beitrag zur Entscheidungskultur in der UdSSR eher die Blickrichtung unterer Akteure ein, die zu bestimmten Sachkomplexen Entscheidungen der Führung herbeizuführen versuchten. Hierzu mussten sie mittels eines „administrative ping-pong“ die Interessen einer Vielzahl von Akteuren und Institutionen einbinden sowie durch das Dickicht informeller Entscheidungspraktiken navigieren.

Im Abschnitt „Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West“ betrachtet zunächst Matthias Völkel den Aufstieg der Kybernetik als einer vermeintlichen Universalwissenschaft zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse in der Sowjetunion seit den 1950er-Jahren. Praktisch beschäftigten sich die sowjetischen Kybernetik-Experten allerdings vor allem mit der Verbesserung technischer Produktions- und Distributionsabläufe durch den Einsatz von Informations- und Computertechnik, die politische Entscheidungsfragen kaum je berührten. Svenja Schnepel untersucht in ihrem zweiten Beitrag die bundesdeutsche Debatte um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Stationierung von US-Atomwaffen auf Bundesgebiet als eine entscheidende Zäsur der Debatten- und Entscheidungskultur. Die Bundesregierung unter Adenauer ging das Thema zunächst im Wege einer Arkanpolitik an, die die laufenden Entscheidungsprozesse vor dem Parlament und der Öffentlichkeit systematisch verschleierte. Dass die Opposition diese Geheimhaltungspolitik immer wieder lautstark anprangerte, vermochte daran nichts zu ändern. Erst das engagierte und medienvermittelte Warnen wissenschaftlicher Experten vor den Gefahren atomarer Aufrüstung, etwa im Göttinger Manifest 1957, zwang die Regierung dazu, ihre Politik breiter zu erläutern und gesellschaftliche Stimmungen zu berücksichtigen. Im nächsten Beitrag analysiert Matthias Glomb die Versuche während der langen 1960er-Jahre, in der bundesdeutschen Bildungsplanung wissenschaftliche Expertise einzubinden und die Aktivitäten von Bund und Ländern zu koordinieren. Abschließend diskutiert S. M. Amadae einige neuere Veröffentlichungen zur Verwissenschaftlichung des Entscheidens im Kalten Krieg, insbesondere zur Anwendung der Spieltheorie in politisch-militärischen Planungsszenarien. Die Autorin gelangt zur kritischen Einschätzung einer aller moralisch-ethischen Bezüge entkleideten, technizistischen Rationalität, die die atomare Vernichtung der Welt ungerührt als eine von vielen möglichen Optionen durchkalkulierte.

Dieser letzte, englischsprachige Beitrag fällt stark aus dem Rahmen des Bandes, ist er doch der einzige, der sich dem internationalen Forschungsfeld der Cold War Studies zuordnet. Die übrigen Beiträge haben hingegen mit dem, was die Herausgeber im Titel und in der Einleitung ankündigen, nur wenig zu tun. Während dort von einer „Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges“ die Rede ist (S. 10), kommt der Kalte Krieg in den allermeisten Beiträgen nicht einmal am Rande vor. Auch wo der weltpolitische Konflikt, wie in der Debatte um die Atombewaffnung, einen wesentlichen Rahmen darstellt, wird dies kaum explizit zum Thema gemacht. Alle Beiträger/innen beziehen sich nahezu ausschließlich auf Entscheidungskulturen, die die je innerstaatliche Politik betreffen. Außenpolitische, transnationale und wechselseitig-dynamische Entscheidungsprozesse, die für den Kalten Krieg spezifisch waren, werden überraschenderweise ebensowenig berücksichtigt wie das zeitgenössische gegenseitige Beobachten und Verstehen-Wollen von Entscheidungskulturen zwischen den verfeindeten Blöcken. In der vorgängigen Annahme einer dichotomen Trennung von Entscheidungskulturen zwischen den undifferenziert als „Ost“ und „West“ bezeichneten Sphären scheint das Bandkonzept eher noch traditionellen Denkweisen des Kalten Krieges verhaftet zu sein und diese fortzuschreiben als auf ihre empirische Durchdringung zu zielen. Den Wert der einzelnen Beiträge schmälert das nicht – sie stellen je für sich genommen valide und fundiert recherchierte politikgeschichtliche Forschungen dar. Auch der gemeinsame Fokus auf Entscheidungsprozesse und -kulturen erweist sich als tragfähig, selbst wenn sich daraus keine spektakulär neuen Befunde oder Sichtweisen ergeben. Der dem Band übergestülpte thematische Rahmen lässt die Beiträge allerdings etwas in der Luft hängen und weckt fehlgehende Erwartungen.

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